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Das Zusammenleben neu erfinden

01.03.2022

Die Genossenschaft «zusammen_h_alt» hat in Winterthur ein Projekt mit Pioniercharakter realisiert: Ein moderner Bau im früheren Sulzer-Industrieareal bietet rund 100 Personen eine Alternative zu den gängigen Angeboten für das Wohnen im Alter.

 

Es ist weder eine Monster-WG, noch ein Seniorenheim mit Rundum-Bedienung. Die Idee von «zusammen_h_alt» besteht vielmehr in einer neuen Alterskultur, wo Menschen über 50 den Lebensabschnitt nach Beruf und Familie aktiv und selbstbestimmt gestalten und nochmals einen Aufbruch wagen können.

Dieses Bedürfnis spielt bis anhin in den wenigsten Konzepten zum Wohnen im Alter eine wesentliche Rolle. «Die gängige Sicht ist doch, dass in der Lebensphase nach der Berufs- und Familienzeit alles nach unten zeigt», erklärt Peter Hajnoczky, einer der Initianten der Genossenschaft. «Wir drehen diese Alterskurve um.» Denn auch wenn im dritten Lebensabschnitt die Energie abnimmt, so bietet er doch viel Zeit und Raum für neue Lebensinhalte und selbstbestimmtes Handeln. Das Winterthurer Projekt schafft dafür die geeignete Wohn- und Lebensstruktur. «Das ist quasi unsere Erfindung», sagt Hajnoczky.

Die ersten Bewohnerinnen und Bewohner zogen vor rund zwei Jahren in den Neubau ein. Die einzelnen Wohnungen sind 40 bis 86 Quadratmetern gross und die monatlichen Mietpreise bewegen sich von 1130 bis knapp 2500 Franken (inklusive Nebenkosten), erklärt Sylvia Felix (Mitglied der Kommission für Kommunikation). Die Wohnfläche erscheint auf den ersten Blick eher bescheiden, doch können dazu rund 12% der Gebäudefläche gemeinschaftlich genutzt werden: Da gibt es Gemeinschaftsräume, ein Musikzimmer, eine Werkstatt, eine Bibliothek, eine Sauna, ein Raum der Stille und eine grosse gemeinsame Waschküche. Dazu bilden zwei Terrassen und das Dach einen grosszügigen Erholungsraum als Entschädigung für die doch sehr urbane Umgebung. Hajnoczky betont, man habe sich bewusst für den Standort mitten in der Stadt entschieden, statt irgendwo auf der grünen Wiese, weil man am Puls des gesellschaftlichen Geschehens bleiben wolle.

"Die Menschen, die hier wohnen, wollen das Alter als eine positive Bewegung erfahren. Diese Idee verbindet uns, aber wir verfolgen keine Ideologie."

Wer sind die Personen, die hier wohnen? Zumeist haben Einzelpersonen hier ein neues Zuhause gesucht, Paare sind in der Minderzahl. Die meisten sind zwischen 55 und 75 Jahre alt, etwa zwei Drittel sind Frauen, erklärt Sylvia Felix. Und Hajnoczky ergänzt: «Die Menschen, die hier wohnen, wollen das Alter als eine positive Bewegung erfahren. Diese Idee verbindet uns, aber wir verfolgen keine Ideologie». 

Dennoch ist es nicht immer einfach, wenn so viele Menschen unter einem Dach wohnen: Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen akzeptieren, dass sie ganz verschieden ticken. Wie das Zusammenleben im Haus konkret funktioniert, bildet sich erst allmählich heraus. Dafür sind Hausgruppen und eine Hausversammlung zuständig. Doch in einem Grundsatz ist man sich einig: Man will möglichst wenig auslagern (wie das andere Alterskonzepte vorsehen), sondern miteinander tätig sein.

Einen Beteiligungszwang am sozialen Leben gibt es aber nicht. Dank der Grösse der Bewohnerschaft von etwa 100 Personen wird das Gemeinschaftliche nicht stillgelegt, wenn sich die eine oder der andere mal in seine vier Wände zurückzieht. Die Corona-Pandemie hat in der Anfangszeit gemeinschaftliche Initiativen etwas ausgebremst. Trotzdem haben sich spontan kleinere Initiativen von Kochgruppen bis hin zu Kamingesprächen gebildet, und Nachbarschaftshilfe gehört zur Normalität.

Offensichtlich findet das Konzept Anklang: Alle Wohneinheiten sind vermietet und es gibt eine Warteliste. Die allermeisten Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich wohl, wie eine Umfrage gezeigt hat. «Insgesamt sind wir in einer guten Entwicklung», ist Hajnoczky überzeugt. «Wichtig ist aber, dass wir neugierig und beweglich bleiben, unser Leben weiter selbst gestalten und nicht in Passivität abgleiten.»